Zwei Geschwister besuchen eine alte Freundin, die nun in einer seltsamen Stadt lebt. Denn dort scheint man die Verstorbenen an genau der Stelle zu begraben, an der sie ihr Leben ausgehaucht haben. Also auch mitten auf der Straße oder in Wohnzimmern. So beginnt die Story, die einem weiteren Kurzgeschichtenband von Horror-Meister Junji Ito seinen Namen gibt. Insgesamt elf Mal tauchen wir ein in seine abseitigen wie abwechslungsreichen Fantasien und bekommen einmal mehr den Eindruck, dass er aus jedem Motiv, jeder Idee eine für ihn typische Horror-Story basteln und konstruieren kann, mit einem schnellen Einstieg und oft einem ebenso schnellen Ende, das Leserinnen und Leser gerne ratlos zurücklässt – ehe es atemlos zur nächsten Episode geht.
In „Haus der Feindschaft“ erkunden befreundete Schülerinnen ein verlassenes, vermeintliches Geisterhaus, in dem einst ein Drama seinen Lauf nahm – mit ungeahnten, wenn auch unterschiedlichen Folgen für jede der jungen Damen. „Schneckenmädchen“ zeigt einmal mehr den für Junji Ito immer wieder charakteristischen Body-Horror, sei er noch so abstrus – denn er nimmt den Titel wörtlich (Ähnliches zeigte er bereits in „Uzumaki“) und „Das Fenster gegenüber“ entpuppt sich wieder als Geistergeschichte mit einer monströsen Hauptfigur. Dann wird ein seltsames „Strandgut“ angeschwemmt: ein riesiges, 30 Meter langes Raupen-ähnliches Monster, das eine eklige Überraschung verbirgt. Und in „Die ehrenwerten Vorfahren“ gedenkt eine Familie ihren Ahnen auf ganz besondere Art und Weise.
„Lange Träume“: Ein Patient in einer Klinik gibt Rätsel auf: er träumt jede Nacht lange Träume, die immer länger werden und sich schließlich über Jahrzehnte erstrecken, mit fatalen Folgen für sich und eine andere Patientin. In „Eine Tunnelgeschichte“ will, oder besser muss ein Mann das Geheimnis eines Eisenbahntunnels ergründen, in dem einst seine Mutter starb. „Bronzestatuen“ stehen im Mittelpunkt einer Story um eine Bürgermeister-Gattin, die ihre besten Jahre hinter sich hat, im Gegensatz zu ihren bronzenen Abbildern. Plötzlich tauchen sie auf: „Pompons“, kleine haarige Knäuel, die umherfliegen und die unbequeme Wahrheiten von Bürgern aussprechen. Und schließlich „Das Blut von Shirasunamura“, das abschließende, blutige Highlight des Bandes, das einen Landarzt zeigt, der seinen Dienst in einem seltsamen Dorf antritt.
Manche der Storys wirken etwas holprig und/oder wirr („Bronzestatuen“), andere hochgradig skurril, wie die Pompons-Episode. Dann gibt es wieder Horror pur, gepaart mit gekonntem Grusel-Supsense, wie die harmlos betitelte Tunnel-Geschichte. In vielen Episoden erschrecken nicht nur die Horror-Elemente – manche bekannt (Geister oder monströse Erscheinungen), andere ungewöhnlich (die vermeintlich harmlosen Pompons) -, sondern auch die Personen, die gerne rücksichtslose oder skrupellose Charakterzüge aufweisen. So der Arzt, für den eine junge Patientin zum Versuchskaninchen wird, der Schüler, der Pompons einfängt, der Sohn, der aus einem bestimmten Grund eine Frau sucht oder das Geschwisterpaar mit einer Leiche – nicht im Keller, sondern im Kofferraum. Happy Endings sucht man hier vergeblich wie es sich für anständigen Horror gehört. Seltsam? Vielleicht. Aber so steht es eben geschrieben. (bw)
Tomb Town – Der steinerne Tod
Text & Bilder: Junji Ito
418 Seiten in Schwarz-Weiß, Hardcover
Carlsen Verlag
25 Euro
ISBN: 978-3-551-71487-9