Eine Mär, die weltweit bekannt ist: Hameln anno 1284. Die Stadt wird von einer beispiellosen Rattenplage heimgesucht. Als ein seltsam gewandeter Rattenfänger auftaucht und seine Dienste anbietet, zögern die Stadtoberen nicht lange und engagieren den Fremden. Der packt sodann seine Flöte aus, spielt eine magische Melodei und führt das Rattenvolk sämtlichst aus der Stadt hinaus direkt in die Weser, wo es jämmerlich ersäuft. Doch als der Fänger seinen Lohn abholen will, speist man ihn entgegen voriger Versprechungen mit einem Almosen ab. Erzürnt zieht er von dannen, nur um baldigst nach Rache sinnend wiederzukehren. Diesmal folgen die Kinder der Stadt seinen Flötentönen. Bis in ihr Verderben hinein in einen Berg und waren fortan nie mehr gesehen. Soweit, so bekannt.
Auftritt André Houot. Der nimmt sich nun der Sage an, von der man laut Wikipeter glaubt, dass über eine Milliarde Menschen sie kennen. Um ein Comicalbum zu füllen, muss hier natürlich einiges modifiziert werden. Das ist nicht negativ gemein, sondern notwendig. Schließlich möchte sich der Leser mit einer Figur identifizieren und der Rattenfänger ist dazu kaum geeignet. Also erweitert Houot neben einer Rahmenhandlung die berühmte Mär um das Schicksal eines hübschen jungen Mädchens, das aufgrund ebendieser Schönheit angeblich den Männern den Kopf verdreht und folgerichtig mit dem Teufel als Hexe im Bunde sein muß. Eva, so heißt die Maid, muss am Pranger mit ansehen wie die Kinder von Hameln aus der Stadt geführt werden. Erzählt wird die Geschichte als Rahmenhandlung von einem fahrenden Gaukler, der kein anderer ist, als der lahme Junge, der ebenso wie Eva aufgrund seines Gebrechens den Marsch in das Verderbern verpaßt.
Auch andere Details, wie zu Beginn die kuriose Verurteilung und Hinrichtung des Schweins oder der seltsame tierische Begleiter des Rattenfängers schüren die dichte, unheilvolle (Mittelalter-) Atmosphäre der Handlung. Hauptgrund für die Faszination des Lesers sind jedoch die unerhörten Zeichnungen. Hieß es bei Blade Runner einst, Ridley Scott sei in die Zukunft gereist, um dort die Gegenwart zu filmen, so scheint es, als sei Houot zurück ins Mittelalter gebeamt, um dort live das Alltagsleben aufzuzeichnen. Seine oft großformatigen Panels strotzen vor einem fast fanatischen Detailreichtum (ohne dabei überladen zu wirken), den man so höchstens noch im monumentalen dritten Band von Bourgeons ‚Gefährten der Dämmerung‘ gesehen hat. Schon die erste Seite mit der winterlichen Szenerie, dem Treiben auf dem Marktplatz und den Fachwerkhäusern im Vorder- und Hintergrund mit all ihren Verzierungen lädt zum minutenlangen Staunen ein. Wieviel Arbeit, akribische Vorbereitung und Recherche dahinter steckt, läßt sich nur vermuten. Auch die Farben von Houots Frau Jocelyne Charrance, die hauptsächlich in Brauntönen gehalten sind, fügen sich perfekt ins Ganze. Dies betrifft auch das Lettering – der Erzähler ‚spricht‘ in wunderbar alter Schrift. Man sieht bei jedem Panel, wieviel Herzblut in dem Album steckt.
André Houot wurde bei uns bekannt durch ‚Siebengestirn‘ (4 Bände bei Splitter), eine originelle SF-Reihe, die, so sehr sie auch zeichnerisch und ideentechnisch fesselte, jedoch an einer holprigen Story krankte. Beim Rattenfänger macht er alles richtig. Houot (nebst Frau Charrance) war einer der Stars beim Comicsalon in Erlangen und nahm hierzulande zuvor noch zwei Signiertermine wahr. Natürlich in Hameln, versteht sich. (bw)
Text & Bilder: André Houot
Farben: Jocelyn Charrance
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Ehapa Comic Collection
13,99 Euro
ISBN: 978-3-7704-3573-9