Irgendwann bin ich in der Bibliothek. Sie sitzt mir gegenüber. Ich spreche sie an. Später treffe ich sie draußen. Wir gehen essen, auf Partys, ins Kino. Ich lerne ihr Lieblingsbuch kennen. Sie ist nett. Ich mag sie. Ein erster Kuss, ein Besuch im Zoo. Ich sehe Ihre Gefühle, beobachte sie beim Tanzen. Dann kommt sie mit zu mir….
Klingt banal? Möglicherweise. Zum Vergleich: Landei vernarrt sich in verruchte Städterin und plant, für sie seine Frau loszuwerden. Aber er verliebt sich erneut in seine Angetraute und überlegt es sich anders. Happy End, fertig. Auch banal, oder? Zwei Zeilen Inhaltsangabe, in denen alles gesagt ist. Es handelt sich dabei um einen Film, seit 50 Jahren Dauergast in diversen Listen der besten Filme aller Zeiten: „Sunrise“ (1927), von F.W. Murnau, einem der fähigsten Filmschaffenden der Geschichte.
Aber zurück zum Comic. Banalität ist also nur eine Seite der Medaille, das haben wir jetzt gelernt. Die Ausführung und Darstellung derselben eine andere. Die Stilmittel machen hier und da die Musik. Da ist zuerst die Ich-Perspektive, der einzige Blickwinkel im gesamten Band. Auch das gab es schon im Film, man denke nur an „Dark Passage“ (1947, „Das unbekannte Gesicht“), den Humphrey Bogart fast zur Hälfte in der Ego-Ansicht bestreitet. Oder, um bei der Filmsprache zu bleiben, die starre Kamera. Eine Szene ist im Bild. Immer die gleiche. Menschen kommen und gehen, dem Betrachter bleibt verborgen, was rechts und links davon geschieht. Beispiele hierfür sind im jüngst bei Carlsen erschienenen „New York“ von Will Eisner zu finden.
Aber Bastien Vivès macht hier doch etwas Neues, er fügt etwas dazu, das so nur im Comic funktionieren kann und das zeigt, dass er das Medium perfekt intus hat: Der Leser, also das Ich, hört seine eigenen Worte nicht. Er bleibt quasi stumm. Nur aus den Reaktionen, den Erwiderungen des Mädchens oder der wenigen andere Figuren wird ersichtlich, was er gerade sagte. Konsequent, bis zum Schluss. Und Vivès beobachtet ganz genau. Ihm entgeht nichts. Wie schon bei „Der Geschmack von Chlor“ zeigt er schon fast mit stoischer Eigenwilligkeit feine Nuancen von Bewegungen oder Gefühlausbrüchen, Panel für Panel. Da ändert sich nicht viel, oft nur ein paar Striche, aber es ist grandios gezeichnet. Ganz offenbar mit Buntstiften und immer ohne Panelränder. Auch anders als beim Vorgänger, wo die typischen Schwimmbadfarben blau und grün dominierten, ist der Band sehr farbenfroh – sogar die Gefühle werden in Farben und teils schon fast abstrakten Panels visualisiert.
All das macht „In meinen Augen“ zu einem wunderbar banalen, künstlerischen, einfach schönen (oder schön einfachen) Comic, und ist damit (das ist jetzt für Insider!) die perfekte Rehabilitierung des Schwimmbad-Bubs. (bw)
Text & Bilder: Bastien Vivès
136 Seiten in Farbe, Softcover
Reprodukt
18 Euro
ISBN 978-3-941099-58-6