Manuele Fior wurde in Italien geboren und lebt mittlerweile in Paris. Mit Fräulein Else stellt er sich in die gute Tradition der Illustrierten Klassiker: er legt nämlich eine Adaption einer der bekanntesten und zu Recht gerühmtesten Erzählungen Arthur Schnitzlers vor. Der Österreicher Schnitzler fing wie kein Zweiter das Lebensgefühl der Jahrhundertwende (ahem, ja, von 1800 auf 1900, das muss man ja mittlerweile dazusagen) ein, das geprägt war von Melancholie, impressionistischer Selbstverliebtheit, Dandies – aber auch Kommerzialisierung, Weltkrieg und nicht zuletzt der von Freud und Jung etablierten Psychoanalyse, die immer wieder ihren Eingang ins Werk des Arztes Schnitzlers fand, auch wenn er kein unbedingter Verfechter der entsprechenden Theorien war. Neben den auch heute noch oft gespielten Theaterstücken wie Anatol, Reigen und Das Weite Land, in denen Schnitzler den Typus des unverantwortlichen, egozentrischen Ästheten beschreibt, setzte er vor allem mit zwei Novellen Maßstäbe: in Leutnant Gustl (1900) und eben der 1924 erschienenen Fräulein Else etablierte er in deutscher Sprache das, was bei Virginia Woolf und James Joyce in den 20ern als stream of consciousness die Erzählkunst revolutionierte. Vollständig im inneren Monolog gehalten, erlebt der Leser dieser beiden Novellen gleichsam aus der Innensicht Eindrücke, Empfindungen und zuweilen höchst subjektive Einschätzungen der Hauptfiguren. Dabei verschwimmen oft Wirklichkeit und Traum, Vorstellung und Realität, wobei im Bewusstseinsstrom die oft in Assoziationen fließende Gedankenwelt der Titelfigur erfasst wird. Hierdurch ergibt sich eine deutlich gefärbte Erzählweise, aus der der Leser die jeweilige Realität erst herausfiltern muss, die teilweise allerdings gar nicht im Vordergrund steht – viel mehr geht es um die (vermeintlichen) Zwänge, Ängste und Psychosen dieser Charaktere. So geht es in Fräulein Else (in der Novelle und der sehr eng daran angelehnten Comicfassung gleichermaßen) um das, was ein furchtbarer Hollywood-Schinken in den 90ern einmal als „Unmoralisches Angebot“ bezeichnete: Elses Vater hat sich (offensichtlich nicht zum ersten Mal) durch spekulative Geschäfte um Kopf und Kragen gebracht und dabei auch ihm anvertraute Gelder veruntreut. Der Bankrott und Skandal scheint nur noch auf eine Art abwendbar: die Tochter Else, die sich gerade auf Sommerfrische in Italien befindet, muss den reichen Kunsthändler Dorsday um finanzielle Hilfe bitten. Was sich im Telegramm der Mutter schon recht unverhohlen wie eine Aufforderung zur Prostitution liest, setzt Dorsday dann die Krone auf: selbstverständlich werde er dem Vater aushelfen – allerdings unter einer Bedingung: „Nichts anderes verlange ich von Ihnen, als eine Viertelstunde in Andacht vor Ihrer Schönheit.“ Im Klartext: Else soll sich für ihn ausziehen. Die junge Frau stürzt dies in einen tiefen Konflikt: im Gegensatz zu ihrer frivolen Freundin Cissy, die keinen Hehl aus ihrer Sexualität macht, ist Else gefangen in bürgerlichen Konventionen, träumt zwar von erotischen Abenteuern, neigt zu Narzissmus und Magersucht – aber dass sie sich mehr oder weniger unverblümt verkaufen soll, überfordert ihr Moralsystem, das zwischen Pflichtbereitschaft der Familie gegenüber und Selbstachtung schwankt. Dass das alles nicht sonderlich gut ausgeht, das versteht sich bei Schnitzler von selbst (auch wenn er hier einmal ohne Duell auskommt).
Die Novelle war schon in den 20ern ein durchschlagender Erfolg und fand folgerichtig bereits 1929 ihre erste mediale Umsetzung: Paul Czinner verfilmte den Stoff mit Elisabeth Bergner in der Hauptrolle unter Beteiligung des kinobegeisterten Schnitzler. Mit Menschen am Sonntag hat sich Manuele Fior schon einmal vom Kino der 20er (und seiner damaligen Wahlheimat Berlin) inspirieren lassen (auch wenn sein Comic inhaltlich letztlich nichts mit dem gleichnamigen Meilensteins des realistischen Stummfilms zu tun hat). Dass sich nun auch das Medium Comic Schnitzlers Erzählung annimmt, ist dennoch durchaus bemerkenswert. Zweifelsohne ist die Erzählkunst für Verfilmungen oder Comic-Adaptionen deutlich besser geeignet als die Dramatik, da in Erzählungen oder Romanen die „kinohaften“ Elemente wie Auflösung der Einheit von Zeit und Raum, von parallelen Handlungssträngen und Schnittfolgen viel deutlicher vorgezeichnet ist als in der weitgehend statischen Bühnenkunst. Nicht umsonst hat der Regisseur Sergeij Eisenstein, der in Sachen Kino ja durchaus wusste wovon er sprach, festgestellt, dass die Romane von Charles Dickens deutlich mehr mit dem Kino zu tun haben als die Theaterstücke der Expressionisten. Aber eine Erzählung wie Else, die vollständig im inneren Monolog abläuft, verlegt die Handlung ja eben wieder nach innen, berichtet nur Eindrücke und muss daher für eine Visualisierung vollständig umgekrempelt werden. Das gelingt Czinners Stummfilm (der Schnitzler nicht sonderlich gefiel) mehr schlecht als recht, aber Manuele Fior trifft Ton und Gehalt der Novelle durchaus meisterhaft. Mit großer Texttreue überträgt er nicht nur die zentralen Handlungselemente, sondern durchaus auch die psychologischen Spannungen in stimmige Bildwelten. Die Dialoge werden direkt präsentiert, Elses Gedanken und Emotionen dazu bleiben in kommentierenden Passagen erhalten. Das für die Handlung zentrale Telegramm der Mutter wird vollständig in Handschrift wiedergegeben, während Elses überschäumende Gedanken hierzu visuell in den Text gemischt werden. Elses zunehmende Phantasien, Träumereien und schließlich psychosenhafte Angstvorstellungen werden in einem entsprechend „deformiertem“ Zeichenstil gespiegelt, der die aus Sicht Elses monströse Qualität der externen Figuren – einschließlich der eigenen Familie – kongenial erfasst.
Überhaupt gelingt es Fior, durch einen deutlich an die Wiener Moderne angelehnten Zeichenstil (in nächster Nähe etwa zu den stilprägenden Zeichnungen Egon Schieles und der Wiener Sezession Gustav Klimts) die Erzählung in ihre künstlerische Heimatepoche einzubetten. Atmosphärisch auch der Gebrauch der Farben: wo Else von ihrer Freiheit, verkörpert im Traum der Heirat nach Italien, schwärmt, da dominieren warme Pastelltöne, und auch der Gesamtfarbton ist eingangs noch aufgehellt, in typischem Fior-Aquarell. Mit weiterem Fortschritt der Handlung spiegelt sich Elses Verzweiflung in dominierendem Schwarz, in das die Heldin und die Erzählung schließlich verschwinden.
Ewig zu streiten sein wird über die Notwendigkeit eines visuellen Mediums, eben die Aspekte sprichwörtlich „ans Licht“ zu bringen, die in der Novelle absichtlich nur angedeutet oder umschrieben bleiben: Elses Selbstbewunderung im Spiegel, die Wahnvorstellungen, das wiederholte Durchspielen der entscheidenden Szene und dann natürlich ihr Auftritt im Salon des Hotels, wo sie Dorsdays Wunsch in selbstzerstörerischer Weise erfüllt (und bei Fior im Übrigen vollends gestaltet ist wie eine Allegorie von Klimt). Wer auf völlige Werktreue pocht, der wird sich hier abwenden, puristische Literaten werden die Kürzungen beklagen, aber wer der Adaption einer solchen Art von Erzählung grundsätzlich offen gegenübersteht, der wird begeistert sein von Fiors künstlerisch absolut gelungener Umsetzung der Vorlage, die in einer atemberaubenden Verflechtung von Bild und Text eine Gesamtschau auf die Erzählung schafft, die nur im Comic (oder dem hochtrabenden großen Bruder, der Graphic Novel) möglich ist. Augenzwinkernd nimmt Fior in die Danksagungen auch „eine kleine Entschuldigung an Arthur Schnitzler“ mit auf. Der immer für neue künstlerische Sichtweisen und vor allem visuelle Medien begeisterte Schnitzler hätte diese Entschuldigung zweifelsohne angenommen. (hb)
[Anmerkung: Holger Bachmann ist einer der führenden Schnitzler Experten. Eine profundere Rezension von Fiors Adaption wird daher nur schwerlich zu finden sein.]
Bilder & Adaption: Manuele Fior
88 Seiten in Farbe, Softcover
19,95 Euro
ISBN: 9783939080-43-5