Die Unheimlichen: Frankenstein (Carlsen)

November 23, 2020
Die Unheimlichen: Frankenstein (Carlsen Verlag)

Leserbriefe dürfte sie wohl eher weniger bekommen haben, die gute Mary Shelley, als sie 1818 ihre alptraumhafte Schöpfung auf die entsetzte Leserschaft losließ. Trotzdem kann ein Wissenschaftskollege kaum an sich halten und berichtet der Dame düpiert, dass sie einer fatalen Fehleinschätzung aufgesessen sei. In höchst eigenen Experimenten, bei denen sich der namentlich nicht weiter bezeichnete Autor ebenfalls eine menschliche Kreatur zusammenbastelt, stellt sich nämlich einiges heraus. Erstens ist es ziemlicher Unfug, sich einen Körper aus unterschiedlichsten Leichenteilen zu basteln – das kann nur schiefgehen und ist haarsträubender Blödsinn. Und, wichtigste Erkenntnis: selbst wenn es gelingt, das Geschöpf kurzzeitig zum Leben zu erwecken, bleibt das ein im wahrsten Sinne des Wortes kurzlebiges Vergnügen: das Wesen bricht alsbald wieder zusammen, worauf es sein „Vater“ im Wald verscharrt, wo es dann für immer bleibt. Denkt er zumindest…

Neben den mittlerweile zahllosen Adaptionen, Fassungen, Verwurstungen und Verballhornungen des wohl bekanntesten Stoffs des Gothic Horror Genre legt Ralf König seine ganz eigene Sicht der Dinge dar, die gekonnt zwischen Entlarvung der unlogischen Elemente der Vorlage und eigener Abseitigkeit changiert. Warum, so fragt der erzürnte Leser Shelleys, sollte man sich einen Körper aus Leichenteilen schnitzen? Warum nicht ein gut erhaltenes Exemplar wiederbeleben? Und warum sollte das Geschöpf dann nachhaltig lebensfähig sein – wo doch nachweislich die Experimente mit Galvanismus nur Zuckungen der Nerven erzeugten, die nichts mit echtem Leben zu tun hatten? Gleichzeitig beschwört König gekonnt die Isolation und Einsamkeit, die besessenes Forschertum hervorbringt: unser „Held“ sieht sich gezwungen, der Wissenschaftsgemeinde abzuschwören und auf dem verlassenen Lande dem wenig glamourösen Job des Bestatters nachzugehen, um in Ruhe seine Experimente vornehmen zu können.

Dass dabei ein durchaus ansehnliches Exemplar männlichen Geschlechts herauskommt, das kann uns hier kaum überraschen, wobei Ralf König die Szene für eine wunderbare Variation des Romans nutzt: anstelle die Kreatur wie einen Alptraum wahrzunehmen, der ans Bett tritt, gesellt sich die stattliche Schöpfung zu seinem Hersteller – bevor sie sich dann im Morgenlicht auflöst. So entsteht ein kluger Kommentar auf den Roman, inklusive einer finsteren Vision der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit in der modernen Welt, die bei aller oberflächlichen Gemeinsamkeit relativ weit weg ist von der schrillen Begeisterung eines Frank’n’Furter für seinen „blonde man with a tan“, den er stolz präsentiert. Wohliger, kluger Grusel vom Feinsten somit. (hb)

Die Unheimlichen: Frankenstein
Text: Ralf König, nach Mary Shelley
Bilder: Ralf König
64 Seiten, Hardcover, Kleinformat
Carlsen Verlag
12 Euro

ISBN: 978-3-551-71354-4

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