Äthermechanik (Dantes Verlag)

November 4, 2019
Äthermechanik (Dantes Verlag)

London, 1907: Kriegsheimkehrer tun sich üblicherweise etwas schwer, sich wieder zurechtzufinden. Das geht auch dem ehemaligen Captain Watcham nicht anders, der vom Fronteinsatz gegen das angreifende Ruritania zurück nach London kommt und dort erst einmal seine alte Bleibe aufsucht, die er per Apergy (also negativer Schwerkraft) betriebener Flugmaschine erreicht. In der Junggesellen-WG wartet dort der verquere Sax Raker auf ihn, ein detektivisches Superhirn, dessen Künste der Deduktion nur noch von seinen antisozialen Zügen übertroffen werden. Raker steckt mitten in seinem nächsten Fall, den der gute Doktor wie immer getreulich aufzeichnet: übereinstimmend berichten verschiedene Wissenschaftler von einer seltsamen Gestalt, die irgendwie zwischen den Dimensionen zu hängen scheint und den sie als „Mann, der nicht da war“ bezeichnen.

Dieser flüchtige Geselle hat gleich einige Forscher gemeuchelt, was natürlich Rakers Ehrgeiz befeuert, zumal gleich das nächste Verbrechen geschieht, das die beiden selbstverständlich vor Ort in Augenschein nehmen. Dabei findet Raker nicht nur eine heiße Spur in Form von Lehmrückständen, die auf die U-Bahn-Tunnel unterhalb der Fleet Street hinweisen, sondern auch noch Inanna Meyer, die er nur als „die Frau“ bezeichnet und die ihn offenkundig zutiefst beschäftigt. Gemeinsam dringt das Trio im Bombenhagel in die Tunnelwelt ein und entdeckt dort eine fantastische Wahrheit…

In diesem schlanken Bändchen, treffend als graphische Novelle bezeichnet, zündet der rührige Warren Ellis ein wahres Feuerwerk für alle Freunde der utopischen und kriminalistischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Im Nachwort stellt er fest, er habe einfach einmal testen wollen, wie denn ein Comic heute aussehen würde, wenn es die gesamte Superhelden-Welle, die das Genre seit den späten 30ern dominiert, niemals gegeben hätte. Im Ergebnis steht diese Melange, die die Groschenhefte, Sensationstheaterstücke und auch populäre Forschung der viktorianischen Zeit mit einem wunderbaren Kunstgriff (der hier natürlich nicht verraten wird, das wäre dann der ultimative Spoiler) mit der Realität vermengt und durch einen Zerrspiegel wieder hervorbringt.

Natürlich lehnt sich die Grundkonstellation an das Dreigestirn Sherlock Holmes, Dr. Watson (bekanntlich seinerseits Kriegsheimkehrer) und Irene Adler an, aber auch der gesamte Science-Fiction-Kontext mit äthergetriebenen Flugschiffen atmet den Geist der frühen SF, die in Form des Cavorit, mit denen H.G. Wells seine Mondfahrer losschickte, und Percy Gregs Apergy (aus dessen Roman „Across the Zodiac“ von 1880) auch direkt aufgerufen wird. Daneben stehen geschickte Einflechtungen der zeitgenössischen Relativitäts- und späteren string theory (an der sich ja selbst ein gewisser Fernseh-Nerd namens Sheldon Cooper die Zähne ausbeißt), die die Äther-Theorie ersetzten, und seltsame Anachronismen, die darauf verweisen, dass ganz im Sinne von Hamlet hier auch die Zeit aus den Fugen ist – aber wir wollten ja nichts verraten.

Nur so viel: auch der letzte Ausritt der Sherlock Holmes Society („Die Sünden des Sohns“) stehen hier durchaus nahe. Gezeichnet wird das Ganze von Gianluca Pagliarani in feinem Tusche-Strich, der den viktorianischen Duktus unterstreicht. Insgesamt eine wunderbare Übung in literarisch-historischer Pastiche, die zeigt, wie komplex und unterhaltsam ein Comic sein kann. Ganz ohne Superhelden. (hb)

Äthermechanik
Text: Warren Ellis
Bilder: Gianluca Pagliarani
48 Seiten in Schwarz-Weiß, Softcover
Dantes Verlag
9 Euro

ISBN: 978-3-946952-30-5

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