Chaos, Band 1 (Splitter)

August 9, 2018

Irgendeine futuristisch-postapokalyptische Welt mit Feudalelementen: der „Patriarch“ genannte Francois, seines Zeichens 129 Jahre alt, belagert die Festung seines Kontrahenten Albert. Der schwärmt von einer „Erfindung“, die den Menschen harte Arbeit abnehmen könne. Francois kann ihn nur warnen: schon einmal hatten sich die Menschen Maschinen für alles geschaffen, die für sie arbeiteten, sich bewegten und auch dachten. Unweigerlich kam es zur Katastrophe, die wir nun in der Rückblende erleben: im Marseille des Jahres 2052 freut sich der junge Francois Deschamps über einen der wenigen begehrten Studienplätze für Agrochemie. Er macht sich auf den Weg nach Paris, um sein Studium anzutreten, auch wenn ihm der vollautomatisierte Hochgeschwindigkeitszug, der durch eine Röhre in die Hauptstadt rast, zuwider ist. Paris liegt unter einer gewaltigen Kuppel, komplett vernetzt erkennen Fahrzeuge ihre Passagiere, sprechen Geräte mit Menschen, die jede Bequemlichkeit gerne annehmen.

Vor Ort will Francois sich mit seiner Freundin und Jugendliebe Blanche Rouget treffen, von der er denkt, dass sie nach wie vor Kunstgeschichte studiert. Blanche ist aber mittlerweile ins Räderwerk der Unterhaltungsindustrie geraten: der schmierige Musikproduzent Jerome Seita plant, die bildhübsche Blanche unter dem Pseudonym Regina Vox als YouTube-Phänomen gnadenlos zu vermarkten. Blanche lässt sich anfangs beeindrucken von Glamour und Geld, während Seita höchst persönlich dafür sorgt, dass er Jahrgangsbeste Francois seinen Studienplatz doch nicht erhält: zu Recht fürchtet Seita, dass Francois seinem Sternchen vielleicht doch noch Vernunft einredet. Zur Feier des Vertragsschlusses lädt Seita seinen künftigen Top-Star zum Essen ein und wird prompt zudringlich: Blanche schließt sich auf der Flucht in einer Zimmer ein und ruft Francois per Handy zu Hilfe. Als der auf dem Weg ist, nimmt das Unheil seinen Lauf: ein universeller Stromausfall trifft die High Tech-Stadt, die im Chaos abstürzender Flugautos, dunkler Aufzüge und vollkommener Orientierungslosigkeit versinkt…

Man muss kein ausgemachter Kulturpessimist sein, um zu erkennen, dass diese düstere Vision von Jean-David Morvan (u.a. auch Erschaffer der Anti-Fabel „Sherlock Fox“) nichts anderes als eine nicht allzu weite Fortschreibung aktueller Trends bietet. Basierend auf dem Werk des Franzosen René Barjavel, in dessen Science Fiction-Romanen oft die Erfindungsgabe des Menschen als letztlich zerstörerische Kraft im Mittelpunkt steht, entfaltet Morvan ein Szenario, das fest im Hier und Jetzt wurzelt: eine Gesellschaft, die sich auf sozialen Netzwerken abspielt, der man auch privateste Daten gerne anvertraut und sich dann wundert, dass diese auch verwendet werden; die für die kleinste (vermeintliche) Annehmlichkeit Wanzen ins eigene Haus holt (Stichwort Alexa), das komplett vernetzt (und damit extern kontrollierbar) wird; eine Gesellschaft, die sich vollkommen freiwillig elektronische Fußfesseln verpasst (weil es doch so wahnsinnig praktisch ist, per Ortungsdienst im Handy jederzeit zu wissen, wo die Kinder und natürlich auch der Partner sich gerade aufhalten – Beziehungsberater Dr. Bachmaier warnt eindringlich!); eine Lebenseinstellung, in der es wichtiger ist, jeden Moment auf Snapchat (Hasenohren obligatorisch) und YouTube zu verbreiten, als ihn einfach zu erleben; eine Haltung, die jede technische Neuerung wie autonome Flugtaxis und einen Zug mit wahnwitziger Geschwindigkeit (Elon Musks Hyperloop lässt grüßen) willkommen heißt – all diese Entwicklungen schreibt Morvan lediglich fort.

Als Kontrapunkt fungiert Francois, der sich in der Blade Runner-Kulisse des überdachten Paris nur über den willigen Kontrollverlust seiner Mitmenschen wundern kann, die keinerlei körperliche Anstrengung mehr in Kauf nehmen, während er lieber die Treppe hochgeht. Notgedrungen akzeptiert auch er einen gewissen Teil des Fortschritts und schnappt sich auf dem Weg zu Blanche ein Fahrrad aus dem Bikesharing-Pool (wer will schon noch etwas besitzen, wenn man alles streamen kann?), aber seine skeptische Grundhaltung bewahrheitet sich am Ende auf grausame Weise, als die Stadt im titelgebenden Chaos versinkt. Der Weg in die postapokalyptische Welt scheint so vorgezeichnet, aber auch schon der Auftakt überzeugt vor allem durch die dynamische Gestaltung, in der Rey Macutay die weitschweifigen, futuristischen Stadtpanoramen, aber auch die Personen – allen voran die bezaubernde Blanche – inszeniert. Somit eine beklemmende Vision, die gerade durch ihre unmittelbare Nähe zur Gegenwart umso dringlicher wirkt. (hb)

Chaos, Band 1: Buch 1
Text: Jean-David Morvan
Bilder: Rey Macutay
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
14,80 Euro

ISBN: 978-3-96219-144-3

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