Unsterblichkeit. Die ewige Jugend. Dieser immerwährende Traum der Menschheit, wenn er nur denn nur erreichbar wäre. Denn dann könnten sich alle unbeschwert ihres Lebens freuen, weil natürlich alle in den Genuss kämen, ihre Lenze unbegrenzt zählen zu dürfen. Ein Paradies… oder vielleicht gerade eher das Gegenteil. Denn im Montreal des Jahres 2111 ist das Lebenselixier längst Realität: die Firma Jouvex macht‘s möglich. Mit regelmäßigen Verjüngungskuren sorgt man dafür, dass die Lebenserwartung auf 200 Jahre steigt; in der Werbung segeln Jungspunde durchs Bild, denen man ihre 125 Jahre in der Tat nicht ansieht. Der Haken: dem Hersteller geht es nicht darum, die Welt zu verbessern, sondern um die Lizenz zum Gelddrucken. Und so kommen nur entsprechend zahlungskräftige Kunden in den Besitz der unzerstörbaren Jugendlichkeit, während die Masse in einer heruntergekommenen, zerfallenden Stadt droht, in Armut und Kriminalität zu versinken. Das schreckt den jungen Riel nicht ab, sein Glück in der großen Stadt zu versuchen, auch wenn dort die Rebellen mit Namen „Bastarde Gottes“ immer wieder Aufstände anzetteln und auch dem verhassten Jouvex-Chef Norton, Symbol für die Ungleichheit und Ausbeutung, nach dem Leben trachten.
Gleich zu Beginn gerät Riel in eine wüste Schießerei zwischen der Polizei und einer mysteriösen Attentäterin, die offenbar übermenschliche Kräfte oder zumindest Gerätschaften ihr eigen nennt und eine ganze Polizeidivision ausschaltet. Auf der Suche nach Unterschlupf trifft Riel auf die tatkräftige Neve, mit der er auf Jobsuche geht und sich auch zwischenmenschlich näherkommt. Während sich die überall gesuchte Attentäterin Gana in einem Versteck ihren Verfolgern entzieht, sucht der ermittelnde Polizei-Lieutenant den Industrieführer Norton auf, der ihm – durchaus wenig glaubwürdig – versichert, er habe die Frau, die ihn zu ermorden suchte, nie gesehen. Da kommt es zu einem weiteren, überaus gewalttätigen Zusammentreffen zwischen Polizei und Rebellen, bei dem die Staatsgewalt auch gewaltige marschierende Panzer ins Gefecht schickt. Die Rebellen tragen allerdings dank Panzerfäusten und Brandbomben den Sieg davon – und werden mitsamt jeder Menge Zivilisten, die sie angeblich als Geisel genommen haben, im Stadtteil Alt-Montreal eingeschlossen und belagert…
Mit „Ab Irato“ – der Titel ist für alte Lateiner hübsch und bedeutet „aus dem Zorn heraus“ – liefert Thierry Labrosse („Morea“, ebenfalls bei Splitter) eine kraftvolle Dystopie, die wie beste Negativ-Science Fiction die Themen Jugendwahn, Überbevölkerung und Gewaltherrschaft behandelt. Der alles überragende Palast und die feudalen Räumlichkeiten des Jouvex-Chefs Norton stehen auch optisch in nächster Nähe zu den Büros, in denen der Erfinder J.F. Sebastian seinen Chef Tyrell aufsucht, bevor ihm dann seine eigenen Geschöpfe den Garaus machen. Die Polizeitruppen, die mit auf Stelzen daher marschierenden Panzern („Krieg der Welten“ lässt grüßen) die Menge in Schach halten, kennen wir aus „Soylent Green“, wo ebenso wenige in Saus und Braus leben, während die Masse darbt. Jenseits von direkten Vorlagen zeichnet Labrosse eine düstere Dystopie, in der ein ewiger Menschheitstraum zum Geschäft pervertiert ist, was durchaus nahe an der Realität liegen dürfte – wer es sich leisten kann, profitiert, so war stets der Welten Lauf, und warum sollte die Zukunft rosiger sein?
Montreal ist genauso heruntergekommen wie das Los Angeles, in dem Rick Deckard die Replikanten jagt, die Außenbezirke und das Umland scheinen noch schlechter dran (siehe auch „Lazarus“), und die sozialen Ungleichgewichte sorgen für grassierende Kriminalität, der sogar Kinder zusprechen. Mitten hinein platzt mit Riel der junge Recke vom Land, der die raubeinige Prinzessin findet und versucht, mit ihr diese Achterbahn zu überstehen – durchaus klassische anti-utopische Motive also, die Labrosse allerdings in kraftvoller Erzählweise und vehementen Bildfolgen trefflich-packend inszeniert. Besonders begrüßenswert, dass Splitter in einem voluminösen Band alle drei Teile der Saga („Riel“, „Descente aux enfers“ und „L’enfant prodige“) versammelt und man sich der Geschichte somit atemlos widmen kann. (hb)
Ab Irato
Text & Bilder: Thierry Labrosse
168 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
29,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-299-1