Zuerst betrachten wir mit Huberts Augen das Gemälde, die einzelnen Details, aufgeschlüsselt in kleine Panels. Dann sehen wir den Betrachter selbst, offenbar nicht mehr der Jüngste und mit großer Brille, wie er scheinbar längere Zeit und gedankenverloren vor dem riesigen Bild steht. Beinahe stoisch, ganz nahe und sicher nicht zum ersten mal. Denn am Ausgang kennt man ihn und verabschiedet ihn mit Namen. Beinahe scheint es, als würde er sich vor der Welt da draußen fürchten, nur zögerlich tritt er aus dem vertrauten Museum hinaus ins Freie. In eine Welt, deren Alltag ihm augenscheinlich chaotisch anmutet, ungeordnet, nervös und fremd, was durch eine Doppelseite als Sinnbild veranschaulicht wird, die in schwarz-weiß gehalten ist und im Gegensatz zur bekannten, stillen Monotonie des Museums ungeordnet und schräg daher kommt. So lernen wir den titelgebenden Protagonisten kennen. Hubert liebt Kunst, vor allem Gemälde. Die studiert er ausgiebig und in aller Ruhe. In Paris. In Brüssel. Denn Hubert hat Zeit. Viel Zeit offenbar. Denn er lebt alleine und geht wohl auch keiner ersichtlichen beruflichen Tätigkeit nach. So vertieft er sich ganz in die Bilder alte Meister, auch um sie zuhause in seiner Mietwohnung zu kopieren.
Seine Interaktion mit der Welt außerhalb der Gemälde beschränkt sich auf ein monotones, desinteressiertes wie einseitiges Zwiegespräch mit einem Mitfahrer, der sich aufdrängt und von Paris nach Brüssel will und mit seiner Nachbarin ein Stockwerk tiefer, die auch bereits ihre besten Tage gesehen hat, deren Drängen Hubert irgendwann nachgibt und sich in ihre Wohnung auf einen Wein einladen lässt. Eine Begegnung, deren Ausgang ihn sichtlich irritieren sollte. Denn erneut zieht Hubert die unveränderliche Kunst der Realität vor, als die Nachbarin sich ihm doch reichlich plump auf ihrem Bett anbietet, während er doch viel lieber über die nackte Olympia an der Wand redet, die in einer ähnlichen Pose verewigt wurde. Nur einmal wird Hubert aktiv, was seine mitmenschliche Umgebung betrifft. Er beobachtet eine Frau im Haus gegenüber, augenscheinlich nicht als Spanner oder aus niederen Beweggründen. Obwohl sie ihn entdeckt und schnell den Vorhang vorzieht, bleibt ihr Bild in seinem Gedächtnis hängen und beschäftigt ihn weiter. Bis er schließlich seine angefangene Kopie des eingangs betrachteten Gemäldes beiseitelegt und die fremde Unbekannte von gegenüber malt und sie so in seine Realität holt.
„Hubert“ ist der erste Comic des Belgiers Ben Gijsemans (Jahrgang 1989) und beeindruckt gleich auf verschiedene Weise. Zuerst die ungewöhnliche Geschichte, ruhig und unspektakulär, deren Visualisierung die Sehgewohnheiten eines Comiclesers durchbricht. In mehreren Episoden, die wie filmische Auf- und Abblenden wirken, verfolgen wir Huberts Leben, in dessen Mittelpunkt die Gemälde stehen. Er ist Stammgast in den Museen, fährt regelmäßig von Brüssel nach Paris. Doch nicht nur hier sehen wir ihn, auch zuhause bei banalen Dingen, wie beim Fernsehen oder beim Essen beobachten wir ihn. Scheinbar in Echtzeit, in vielen kleinen, gleichgroßen Panels, die jede Bewegung Huberts nuanciert und akribisch verfolgen und in ihrer Regelmäßigkeit sein für den Betrachter monotones Leben einfangen. Dabei wird kaum gesprochen, auch in den Museen nicht, von den o.g. Episoden abgesehen. Neben dem filigranen, realistisch klaren Zeichenstil beeindruckt die ungewöhnliche Farbgebung. Die erinnert mit ihren erdigen Tönen an Seiten uralter Zeitungscomics, die bereits ordentlich Patina angesetzt haben. So verwundert es nicht, wenn Gijsemans als Vorbilder Größen wie Hergé und Winsor McCay nennt. Die Farbgebung, so berichtete er uns beim Comic-Salon in Erlangen, zu dem er im Rahmen des Flandern-Schwerpunkts eingeladen war, entstehe in einem komplexen Arbeitsgang als Mischung aus Computer und Handarbeit. In Frankreich und Belgien war die Erstauflage von „Hubert“ im Nu vergriffen. Hier hat sich nun Jacoby & Stuart die Rechte gesichert und macht den außergewöhnlichen wie künstlerisch in doppelter Hinsicht wertvollen Band auch für die deutschen Leser und Betrachter zugänglich. (bw)
Hubert
Text & Bilder: Ben Gijsemans
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Jacoby & Stuart
24 Euro
ISBN: 978-3-941787-81-0