Der Fremde (Jacoby & Stuart)

Oktober 14, 2014

Der Fremde (Jacoby & Stuart)

„Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern. Ich weiß es nicht.“ Ein seltsamer wie einprägsamer Beginn. Und irgendwie gruselig. Die ersten Gedanken des Protagonisten Meursault in Albert Camus‘ existentialistischem Roman Der Fremde. Genauso beginnt auch die Comic-Adaption. Fast. Denn hier steht am Anfang eine wortlose, einführende Seite, die zeigt, wie Meursault in der Hitze des Tages gerade noch so auf einen Bus aufspringt. Und da sind wir schon beim Dilemma: bei einer derart ‚prominenten‘ Vorlage liegt es nahe, den Roman mit der Comic-Adaption zu vergleichen. Hier das gedruckte Wort und Bilder, die im Kopf entstehen. Dort die vom Zeichner vorgegebene, bildgewordene Fantasie mit naturgemäß weniger Text. Aber genau das wollen wir hier – soweit möglich – vermeiden und vordergründig den Comic betrachten (und ich gebe zu, dass es schon eine gute Weile her ist, als ich Der Fremde gelesen habe – gleich nach Die Pest). So soll der Comic, für dessen Texte die deutsche Originalübersetzung von Uli Aumüller verwendet wurde, hier für sich alleine stehen.

Zurück zu Meursault, dessen erste Gedanken ihn also nicht gerade sympathisch machen, was sich auch nicht mehr ändern wird. Er fährt also zum Begräbnis seiner Mutter, die in einem Seniorenheim in der Nähe von Algier gestorben ist (der Roman erschien 1940, damals war Algerien französische Kolonie). Dort benimmt er sich seltsam abwesend, gleichgültig, gefühlskalt. Zurück in Algier ist das nicht viel anders. Am Tag nach der Beerdigung trifft er seine Freundin Marie, geht mit ihr ins Kino (eine Komödie mit Fernandel), verbringt die Nacht mit ihr. Keine Anzeichen von Trauer. Und Meursault wertet nicht. Er liebt Marie nicht, sagt ihr das auch. Dann lernt er den Gauner Raymond Sintès kennen und hilft ihm, dessen abtrünnige Freundin zu bestrafen. Auch hier keine Wertung zwischen Recht und Unrecht, keine Gefühle. Kurz darauf kommt der fatale Zwischenfall. Meursault tötet in der Mittagshitze einen Araber, der eigentlich mit Raymond Ärger hatte, mit mehreren Schüssen. So beginnt und endet Teil eins des Buches und des Comics mit dem Tod.

Im zweiten Teil steht Meursault vor Gericht. Nachdem er zum allgemeinen Entsetzen erklärt, dass er nicht an Gott glaubt, wird der Staatsanwalt auf der Suche nach einem Motiv fündig. Sein Benehmen nach dem Tod seiner Mutter, seine immerwährende Gleichgültigkeit wird als Kaltblütigkeit, als Abgebrühtheit ausgelegt. Die Zeugen, die zu seinen Gunsten aussagen – ein verwirrter Alter, seine Freundin, deren Verhalten in den Augen des Gerichts unmoralisch war, sein zwielichtiger Kumpel Raymond – können ihn nicht entlasten. Und so ist das Ende unausweichlich. Er wird von den Geschworenen zum Tode durch das Schafott verurteilt. In seiner Zelle erwartet er seine Hinrichtung. Er lehnt den Beistand des Priesters ab, streitet mit ihm und kommt am Ende dann doch mit sich ins Reine – im weitesten Sinne zumindest.

Natürlich werden auch im Comic die existentialistischen Hauptthemen beackert: die Welt als sinnlose Kälte (wieder im Gegensatz zu den warmen, freundlichen Farben des Comics – dazu unten mehr), der Mensch, also Meursault, als darauf geworfener Fremder, der irgendwie klarkommen muss. Und letztendlich scheitert. Was sich natürlich gegen die klassische Weltsicht richtet, dass alles irgendwo einen Sinn hat, weil es von Gott gesteuert wird (den Meursault leugnet).

Aber gerne gebe ich zu (ja, schon wieder): mindestens im gleichen Maße wie die Adaption des Romans an sich interessiert mich der Zeichner: Jacques Ferrandez, Jahrgang 1955. Dessen letzten Veröffentlichungen hierzulande liegen schändlicherweise schon ewig zurück. Und auch darin beschäftigte er sich mit Algerien und dessen Geschichte(n) – kein Wunder, wurde er doch in Algier geboren. Sein Algerisches Tagebuch erschien 1988 bei Carlsen und ebenfalls dort zuletzt Die Söhne des Südens, das war aber auch bereits 1994. Seinem beeindruckenden Stil ist er treu geblieben: ruhige, für das Auge angenehme Bilder in behutsam abgestimmten Aquarell-Farben, die auch in Der Fremde keine Tristesse verbreiten (obwohl sich eine ‚finstere‘ Kolorierung hier auch durchaus angeboten hätte). Oft werden die Seiten mit stimmungsvollen, hell kolorierten Bleistiftzeichnungen eingeleitet, die größer und ohne Panelrahmen daherkommen. Buntes als Kontrapunkt zum langweiligen, tristen Dasein des Protagonisten. Gut gewählt und gelungen auch die Präsentation, wobei der Verlag dankbarerweise auf das inzwischen populäre kleinere Graphic Novel Format verzichtet, was den Genuss der Zeichnungen sichtlich hebt. Die Schlüsselszene mit dem Mord ist beeindruckend inszeniert. Was im Roman (Mist, jetzt doch der Vergleich) eine gute Seite einnimmt, wird im Comic auf vier Seiten schon beinahe filmisch bebildert. Meursault tötet eiskalt, quasi als Gegenpol zur sengenden Sonne, der er die Hauptursache an seiner Tat zuschreibt. Seine Mimik bleibt auch im Comic reduziert. Manchmal scheint er zu schwitzen oder ist vielleicht erregt. Aber er zeigt keine Gefühle, höchstens Erkenntnis. Folgerichtig bleibt Meursault ein Fremder. Für die Menschen, die ihn kennen, für das Gericht und natürlich auch für den Leser.

Für wen ist nun eine solche Comic-Adaption gedacht? Quasi ein Hybrid aus moderner klassischer Literatur und ebenso modernem Medium? Nun, sie macht es vielleicht einfacher und leichter, einen Zugang zu vermeintlich schwererer Kost zu bekommen. Sie mag auch eine andere Leserschaft ansprechen. Es ist leichter (ja, auch schneller), ein Comic zu lesen, als einen Roman. Andererseits wird sich der typische Asterix Leser schwerlich für eine solche Adaption begeistern lassen. Hierzulande zumindest, in Frankreich oder Belgien, wo der Comic einen ganz anderen kulturellen Stellenwert hat, mag das anders aussehen. Trotzdem mag man damit neue Leser erschließen, die den Roman nie angefasst hätten (gleiches gilt auch für Manuele Fiors gelungene Adaption von Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else, auf die wir an dieser Stelle gerne verweisen). Fest steht: Ferrandez’ zeichnerische Qualitäten machen aus der Adaption auch eine sehenswerte Graphic Novel (grafischer Roman passt hier mal), an der man gerne hängen bleibt. (bw)

Der Fremde
Adaption & Bilder: Jacques Ferrandez
nach dem Roman von Albert Camus
128 Seiten in Farbe, Hardcover
Jacoby & Stuart
24 Euro

ISBN: 978-3-942787-21-5

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